Gemeindeforschung: „In vielen Kirchen steht die Zeit still“

1.12.2023. – Friedemann Burkhardt ist Pastor, Dozent und Gemeindeforscher. Im letzten Jahr hat er federführend eine Kirchenstudie zur Metropolregion Stuttgart herausgeben, die es in sich hat. Sie zeigt ein signifikant anderes Bild von Kirche wie bisherige Studien. Unter anderem weist sie empirisch nach, dass den Kirchen im Gegensatz zu den meisten anderen gesellschaftlichen Institutionen die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund kaum gelingt. Nun hat Burkhardt ein neues Buch geschrieben, in dem er Perspektiven aufzeigt, wie interkulturelle Öffnung in Kirchengemeinden gelingen kann.

regeneratio: Herr Burkhardt, warum ein Buch zum Thema Interkulturalität und Kirchengemeinde?

Burkhardt: Weil es längst überfällig ist. Unser Land braucht interkulturelle Gemeinden. In Kindergärten, Schulen und Universitäten, Krankenhäusern oder Betrieben repräsentieren die Menschen, die dort anzutreffen sind, die Internationalität unserer Gesellschaft. Schauen Sie in die Kirchen, scheint die Zeit still zu stehen. Nicht nur unsere, auch andere Forschungen zeigen, dass Kirchen Integration kaum gelingt. Es gibt auch positive Beispiele, aber aufs Ganze gesehen schaffen es die Kirchen erfolgreich, sich einer interkulturellen Öffnung zu verschließen. Das muss sich ändern.

regeneratio: Warum ist das so? Was passiert da?

Burkhardt: Demografisch gesehen bilden viele Gemeinden einheimischer Kirchen ein eher traditionell-bürgerliches und abgeschlossenes Bevölkerungssegment. Der Kirchensoziologe Gerd Pickel weist darauf hin, dass dies in Kirchengemeinden zu einer ausgeprägteren Polarisierung zwischen Willkommenskultur und Fremdenangst führt als in der restlichen Gesellschaft. Im kirchlichen Raum verstärken sich die migrationsbedingten Herausforderungen über das gesellschaft­liche Durchschnittsmaß hinaus. Denn in Kirche und Gemeinden stehen Menschen mit konservativen Wertvorstellungen, denen rechte Auffassungen sehr nahekommen können, solchen gegenüber, die rechte Haltungen aus Überzeugung entschieden ablehnen. Diese Gemengelage erschwert die Integration.

regeneratio: … und führt auch zu Fremdenfeindlichkeit?

Burkhardt: Ja, leider. Der katholi­sche Sonderbeauftragten für Flüchtlingsfragen Erzbischof Stefan Heße sprach auf dem Flüchtlingsgip­fel der Deutschen Bischofskonferenz davon, dass die Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gemeinden angekommen sei. Heße bekräftigte den Auftrag von Gemeinden, Flüchtlinge aufzunehmen, und sah die Kirche herausgefordert, auf Rechtspopulismus zu reagieren.

regeneratio: Was müsste sich ändern?

Burkhardt: Deutschland braucht Kirchengemeinden, die sich nicht nur auf den individuellen Glauben ihrer Gemeindeglieder ausrichten und nur in ihre eigene Gemeinschaft investieren, während sie sich aus der Gesellschaft heraushalten. Es braucht auch mehr als professionelle Dienste der Diakonie, die von den Gemeinden weitgehend losgelöst sind. Was es braucht, sind Gemeinden, die die Not der Geflüchteten zum Thema machen, sie aufnehmen und ihnen helfen, sich zu integrieren.

regeneratio: Es gibt mehr Probleme als migrationsbedingte Herausforderungen.

Burkhardt: Natürlich. Es gibt die Klimakrise, neue soziale Fragen. Dazu gehört der knappe Wohnraum, die Angst vieler Menschen vor dem sozialen Absturz. Die Kriege in der Ukraine und Nahost. Aber diese Umbrüche und Krisen sind nicht die Ursache für die sich zuspitzenden gesellschaftlichen Probleme in Deutschland. Sie sind eher Symptom als Ursache.

regeneratio: Und die Ursache wäre …

Burkhardt: Das eigentliche Problem sehe ich in einer Wahrnehmungs- und Identitätskrise der Gemeinden. Die Kirchen haben es versäumt, die genuin christlichen Werte in ihren Gemeinden lebendig zu erhalten, die in gesellschaftlichen Umbrüchen Orientierung geben können und die weit über die sozialethische und diakonische Dimension des Glaubens hinausgehen. Die tragenden Werte ergeben sich aus einem tiefen Verstehen dessen, wer Jesus Christus war und heute ist und was es bedeutet, ihm nachzufolgen. Was Jesus Christus nach neutestamentlicher Überlieferung in seinem Wesen ausmachte, ist seine Bereitschaft zur Hingabe, Selbstentäußerung und zu einem Lebensstil, der aus menschlicher Sicht als unvollkommen, schwach und arm bezeichnet werden muss. Am Ende stand sein gänzliches Scheitern und Sterben. Dennoch sehen Christen im Tod Jesus den tiefen Grund für seine Erhöhung und ziehen daraus Kraft und Hoffnung, vermeintlich negative Krisenerfahrungen in einem positiven Licht zu sehen.

regeneratio: Was heißt das konkret?

Burkhardt: Konkret bedeutet das, dass Gemeinden Notlagen wie Krankheit, Armut, Flucht oder Migration nicht abstrakt betrachten und an sozialdiakonische Spezialresorts der Kirche delegieren. Christen behandeln die Krisen an ihrem originären Platz im Zentrum des Gemeindelebens, weil sie Teil ihres Sendungsauftrags sind. Gemeinden stellen sich der Aufgabe, Menschen auf der Flucht in ihre Gemeinschaft zu integrieren, im Glauben, dass sie das nicht ärmer macht.

regeneratio: Zu Ihrem Buch. Welche neuen Perspektiven eröffnet es?

Burkhardt: Dass die interkulturelle Öffnung von Gemeinden keine Kür ist, sondern ein Wesenszug christlichen Glaubens und darum theologisch notwendig. Zweitens lässt sich empirisch zeigen, dass sich mit einer interkulturellen Entwicklung eine Attraktivität verbindet, die in Kirchengemeinden produktiv wirkt, weil sie ihre Relevanz bei Mitgliedern und im Gemeinwesen deutlich erhöht. Neu ist auch die Praxistheorie, die das Buch mitliefert und die Kirchen anleitet, für ihre interkulturelle Öffnung individuelle theologisch sachgerechte und kontextuell passende Lösung zu erarbeiten.

regeneratio: Ist eine solche interkulturelle Öffnung einer Gemeinde nicht extrem schwer?

Burkhardt: Ja und Nein.  Soweit wir sehen, waren die neutestamentlichen Gemeinden interkulturelle Gemeinden. Sie haben sich an alle Menschen einer Gesellschaft gewandt. Das hat ihnen nicht geschadet, im Gegenteil Wie ein Mischwald stärker und widerstandsfähiger als eine Monokultur ist, so bietet die Vielfalt der Menschen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenskonzepten einen großen Ressourcenreichtum. Dieser macht eine Gemeinde stark und bietet ihr zahlreiche Möglichkeiten der Entwicklung.

regeneratio: Dazu verhilft Ihr Buch?

Burkhardt: Mein Buch gibt gute Anleitungen für die Konzeption und Entwicklung einer interkulturellen Gemeinde, die den Mitarbeitern und Leitern hilft, eigene Lösungen zu erarbeiten.

regeneratio: Welche Bedeutung kommt dem Thema in der aktuellen Gemeindeaufbauszene zu?

Burkhardt: Buch schließen eine Lücke in der Praktischen und Interkulturellen Theologie, die bei diesem Thema abstrakt bleiben. Ich liefere eine anwendungsfreundliche Praxistheorie, indem ich empirische Forschung mit theologischer Reflexion kombiniere, deren Ergebnisse in Grundsätze praktischer Ekklesiologie überführe und zu einer konsistenten Praxistheorie verbinde.

regeneratio: Ihr Buch in einem Satz:

Burkhardt: Auf empirischer Basis entsteht eine Praxistheorie interkultureller Gemeindeentwicklung, die zur Erarbeitung innovativer Visionen in diversen Gesellschaften anregt.


Link zum Buch: Transkript-Verlag