Wenn der Hase die Flinte erhält …

Einführung in ein neues Forschungs-Tool für Gemeinden, die wissen wollen, wie sie wirken

Corona hat die Schwachstellen öffentlicher Institutionen aufgedeckt – auch von Kirchen. Stellten schon die pandemiebedingten Beschränkungen Gemeinden vor immense Herausforderungen, so gerieten viele Pastoren und Gemeindeleiter bei der Aufnahme des Gemeindelebens nach der Pandemie in eine zweite, oft noch schwerwiegender empfundene Krise. Denn sie erlebten, dass nur noch ein Teil ihrer Gemeinde aus dem Lockdown wieder zurückkehrte! Darauf angesprochen, warum Gemeindemitglieder nicht mehr kämen, antworten Gemeindeglieder: „Wir haben gemerkt, dass uns ohne Gottesdienst gar nichts fehlt. Wir haben uns an das Leben ohne Gemeinde gewöhnt. Es ist gut so.“

Umfassender Relevanzverlust

Solche Erfahrungen zeigen, wie die Coronakrise die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit kirchlicher Institutionen sichtbar machte. In diesem umfassenden Relevanzverlust von Christentum und Kirche bei den Menschen unserer Zeit liegen die Ursachen und Folgen der viel beklagten Probleme wie Kirchenaustritte, Überalterung, fehlendes Wachstum von Gemeinden oder konkurrierende Anbieter auf dem Markt religiöser und weltanschaulicher Sinndeutung. Was Gemeindeverantwortlichen heute zu schaffen macht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen über die kirchlichen Angebote urteilen und sich das für sie Sinnvolle und Zweckmäßige aussuchen.

Vertauschte Rollen: Heute hält der Hase die Flinte in der Hand!

Die latente Entwicklung in der gesellschaftlichen Bedeutung von Kirche, die sich in den letzten 50 Jahren vollzogen hat, ist mit der Pandemie offensichtlich geworden: Die traditionelle Rollenverteilung in religiösen Fragen ist vertauscht! Dieses Phänomen erinnert an die Geschichte vom Hasen und wilden Jäger aus Heinnrich Hoffmanns Kinderbuch „Der Struwwelpeter“ (1844). Denn die Geschichte vom Jäger, der vom Hasen überrumpelt wird und in den Brunnen fällt, spiegelt in Wirklichkeit nicht die Welt der Kinder wider. Es ist keine Geschichte über ein unartiges Kind, sondern über eine „verkehrte Welt“. Hier wird die Autorität der Jäger, straflos verhöhnt und untergraben. Demgegenüber nimmt der Schwächere, der Hase, die Flinte in der Hand und triumphiert. Dieses lässt sich auf die gegenwärtige Situation der Kirche übertragen. Angesichts hoher Kirchenaustrittszahlen oder Gemeindeschließungen könnte jemand auf die Idee kommen und sagen: „Nun hält der Hase hält die Flinte in der Hand!“, was so viel heißen soll wie: Heute entscheiden die Menschen frei und selbstbewusst über die Annahme oder Ablehnung der Gemeindeangebote. Nicht mehr die Kirche und ihre Repräsentanten gebenden Menschen vor, was die zu glauben haben und was nicht, oder wem sie in ihren religiösen Bedürfnissen vertrauen sollen. Vielmehr fallen solche Entscheidungen an den Berührungspunkten von Gemeinden mit den Menschen um sie herum, die sich auf der Suche nach Halt, tragfähigen Werten oder nach Lebenssinn befinden. Über die Annahme oder Ablehnung entscheidet allein, ob Gemeinden etwas Gehaltvolles, Plausibles und Begeisterndes aus ihrer religiös-kirchlichen Tradition anzubieten haben und ob die Menschen dies als für sie relevant erkennen.

Die Aufgabe eines relevanten, gehaltvollen Glaubens

Die Möglichkeit jedes Einzelnen, sich für oder gegen den christlichen Glauben zu entscheiden, ist theologisch höchst bedeutsam! Eine Glaubensentscheidung ist aus Perspektive einer biblisch-christlichen Theologie der gewöhnliche Weg, wie ein Einzelner den Glauben annimmt. Christliche Lehrinhalte und Gemeinschaftspraxis sind keine objektiven Heilswahrheiten oder Heilsgüter, sondern nur dann, wenn sie der einzelne Mensch aus seiner subjektiven Sicht für sich und sein Leben annimmt. Das Neue Testament formuliert: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben“ (Johannes 1, 12). Entscheidend ist also, dass der einzelne das Evangelium in Jesus Christus hört, begreift und für sich annimmt. Luther sagt es so: „Denn ob Christus tausendmahl für uns gegeben und gekreuzigt würde, wäre‘s alles umsonst, wenn nicht das Wort Gottes käme, und teilet’s aus und schenke mir’s und spräche, das soll dein sein, nimm hin und habe dir’s.“ (WA18; 202,37– 203,2). Die Forderung nach Relevanz, die die Menschen heute an die christliche Verkündigung und an die Gemeinschaftsformen stellen, ermöglicht es Kirchen und Gemeinden, sich neu an biblischen und reformatorischen Grundüberzeugungen auszurichten. Aus dieser Möglichkeit ergibt sich die Aufgabe, die Relevanz der biblischen Botschaft aufzuzeigen und den Menschen einen substanziell gehaltvollen Glauben anzubieten. Wo Kirche heute auf Interessenten stößt, warten diese nicht mehr, bis sich Gemeinden und Pastoren auf ihre Fragen einlassen. Solche Menschen kommen auf der Suche nach tragfähigen Werten, nach Antworten auf Lebensfragen, Lösungen für Probleme oder Hilfe in Nöten. Wenn sie an den Berührungspunkten nichts Substanzielles finden, das für sie bedeutungsvoll erscheint und sie wirklich berührt, gehen sie weiter.

Ein kirchliches Touchpoint Management entwickelt

Für die Berührungspunkte von Menschen und Evangelium oder Mensch und Kirche braucht es heute ein kirchliches Touchpoint Management.Darunter verstehen wir die Planung und Organisation aller missionalen Maßnahmen, die es braucht, dass Menschen auf der Suche nach geistlichem Leben an jedem gemeindlichen Interaktionspunkt eine gehaltvolle, vertrauenswürdige und exzellente Erfahrung mit Gemeinde oder ihren Repräsentanten erleben. Dazu gehört, dass Gemeinden Interessierten und Suchenden Enttäuschungen ersparen, und sie durch substanziell gute Angebote positiv überraschen und begeistern. Das kirchliche Touchpoint Management lässt alte Missionsstrategien hinter sich, bei dem Gemeinden selbstbezogen fragen, was sie den Menschen in ihrem Umfeld bieten. Gemeinden, die relevant sein und Menschen überzeugend ihre Inhalte anbieten wollen, fragen, was die Menschen an den Berührungspunkten mit der Gemeinde erwarten. Dabei differenzieren sie gemeindeinterne Touchpoints und solche, die im Umfeld der Gemeinde anzusiedeln sind. Und auch diese unterscheiden sie noch weiter. Ziel ist ein möglichst gutes Verstehen der Menschen in ihrer unterschiedlichen Verbundenheit mit der Gemeinde und mit ihren Anliegen, die an den Kontaktepunkten der Gemeinde erscheinen.Kirchliches Touchpoint Management heißt weiter, dass Kirchen und Gemeinden in der Vermittlung des Evangeliums einen Raum schaffen, in dem die biblischen und christlichen Darstellungen über den Glauben einerseits und die Menschen der Gegenwart als entscheidungsfähige Einzelne andererseits zusammengeführt werden, so dass der Einzelne die Möglichkeit einer freien Reflexion und Bewertung des religiösen Angebots erhält.

Relevanz durch Komplexitätsreduzierung

Wenn für Menschen ein Gottesdienst oder eine Gemeinde relevant sind, messen sie diesen eine hohe Wichtigkeit und Bedeutsamkeit in der konkrete Entscheidungssituation zu, dass sie diese für ihr Leben als so unverzichtbar halten, dass sie sich in ihrem Denken, Fühlen und Handeln von ihnen beeinflussen lassen.Nun ist unsere Zeit und Welt von unüberschaubarer Komplexität und uns bestimmt eine Flut von Informationen. Dringend erforderlich ist eine Komplexitätsreduzierung. Eine Form der Komplexitätsreduzierung sind verlässliche Empfehlungen durch Dritte, weil sie uns Orientierung geben und Entscheidungsprozesse abkürzen. Das heißt: In Zeiten einer starken Sensibilität für Relevanz braucht es glaubwürdige Zeugen des Evangeliums. Wenn es sich daher um Personen handelt, die wir kennen und denen wir vertrauen, verringert sich das Risiko, eine Fehlentscheidung zu treffen, und die Gefahr, enttäuscht zu werden. Indem ich mir etwas von einem anderen empfehlen lasse, ersetze ich mangelndes Wissen durch Vertrauen, was Sicherheit schafft. Die Zeugen helfen uns, eine Menge wertvoller Zeit zu sparen.

Relevanz durch Substanz

Ein Ergebnis der Stuttgarter Gottesdienst- und Gemeindestudie des LIMRIS-Forschungsinstitutes zur kirchlichen Relevanz besteht darin, dass Gemeinden, die durch ein überdurchschnittliches Mobilisierungsvermögen oder nachhaltiges Wachstum eine starke Relevanz zeigen, in allen Denominationen und Konfessionen zu finden sind. Zwar zeigt sich, dass jüngere pfingstkirchliche, charismatische und evangelikale Gemeinden insgesamt eine hohe Bedeutsamkeit bei Menschen erreichen. Dennoch gibt es einzelne Gemeinden mit einem überproportionalen Gottesdienstbesuch auch in Denominationen, die unter dem Durschnitt liegen. Dies legt die Annahme nahe, die sich dann auch in den Interviews mit repräsentativen Stichprobengemeinden bestätigte, nämlich: Die Erfolgsfaktoren vitaler Gemeinden (im Unterschied zu weniger produktiven Gemeinden) liegen in strukturellen oder prinzipiellen Grundsätzen der Gemeindeentwicklung wie zum Beispiel in einem bestimmten Gottesdienstverständnis, in missionarisch-evangelistische Initiativen außerhalb der Gemeinderäumlichkeiten, in Hauskreisen, medial vermittelte Gemeinschaft oder Interkulturalität. Offensichtlich bewirken solche substanziellen Größen Relevanz bei Menschen auf der Suche nach geistlichem Leben oder einer christlichen Gemeinschaft.

Ein neues Forschungsformat entsteht: Die Gemeinde-Relevanz-Studien

Nachdem die Metropolstudie im Raum Stuttgart publiziert war, kam die Frage auf, wie eine Gemeinde feststellen kann, wie relevant das, was sie tut und verkörpert, von Menschen in ihrem Umfeld, aber auch innerhalb der Gemeinde bewertet wird? Wie würde die Bewertung ausfallen, wenn „der Hase die Flinte in die Hand nimmt“? Es versteht sich von selbst, dass ein Feedback über die Relevanz einer Gemeinde an den Kontaktpunkten mit Menschen, wichtige Einsichten und Impulse für die Gemeindeentwicklung erwarten lässt. Ausgehend von solchen Überlegungen entwickelte das LIMRIS-Forschungsinstitut 2022 das neue Forschungsformat der „Gemeinde-Relevanz-Studien“.