Wohin geht die Reise und was braucht es dazu?
Thesen für eine fruchtbare der Gemeindeentwicklung und zur Frage, was der Kirche Zukunft verspricht
Gerhard Wegner, ehemaliger Direktor des Sozialwissenschaftlichen Institutes der EKD zeigt, wie die Pandemie die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit vieler Kirchen sichtbar machte, die schuld ist an Problemen wie Kirchenaustritten, Überalterung, fehlendes Wachstum, schwindende Finanzen oder zunehmende Konkurrenz auf dem Markt religiöser Anbieter. Er erörtert die Frage, ob dieser umfassende Niedergang zu stoppen ist und, wenn ja, wie? Was ermöglicht eine tiefgreifende Erneuerung traditioneller Kirchlichkeit? Eine Lösung sieht er in der Besinnung auf die Inhalte und Erfahrungsgehalte christlichen Glaubens. Diese Einschätzung deckt sich mit den Einsichten aus der empirischen Kirchen- und Gemeindeforschung, die das LIMRIS-Forschungsinstitut in Bad Liebenzell macht. In acht Thesen mit Erläuterungen werden empirisch erarbeitete und theologisch reflektierten Faktoren für eine fruchtbare Gemeindeentwicklung vorgestellt.
1. Prinzipiell geschieht kirchliche Erneuerung nach dem Grundsatz „Gemeindeentwicklung durch Glaubensentwicklung“.
Glaubensentwicklung, das bedeutet den Einbezug der substanziellen Inhalte und Erfahrungsgehalte christlichen Glaubens in die Ekklesiologie, erweist sich empirisch, biblisch und historisch als Bedingung für eine kirchliche Erneuerung. Darum erhält die Wiederentdeckung der Kraft christlichen Glaubens und seine Integration ins Leben der Gläubigen, insbesondere ihrer pastoralen Leitungspersonen Priorität vor Strukturprogrammen.
2. An der Not heutiger Menschen orientierte, leidenschaftliche Weitergabe des Evangeliums außerhalb der Kirchenräume verleiht christlichem Glauben Relevanz.
Die empirische Gemeindeforschung zeigt Potenziale junger vitaler und experimenteller Gemeindeformen pentekostaler, charismatischer und evangelikaler Provenienz, die die Vermittlung der christlichen Botschaft im Sinn einer „Geh-Struktur“ zum ekklesiologischen Prinzip erheben.
3. Missionarische Gottesdienste im Worship-Stil mit schriftbezogener, lebensnaher Verkündigung und klarer Ausrichtung auf Jesus Christus werden für Menschen auf ihrer Sinnsuche zum Raum der Gotteserfahrung.
Frühere Reformbewegungen gaben dem öffentlichen Gottesdienst ein explizit missionarisches Profil. Bemerkenswerterweise waren dabei die sozialen Implikationen der grundlegenden Kerninhalte christlichen Glaubens greifbar. Dies fordert heraus, auch heute für seine zeitgemäße, theologisch-sachgerechte und geistlich-erfahrungsbezogene Entwicklung offen zu sein.
4. Hausgruppen sind der primäre Ort für Glaubensentwicklung.
Verbindlichkeit und die Ausrichtung auf Jesus Christus ermöglichen eine inklusive Gemeinschaftskultur, die Neuhinzugekommenen integriert und gegenseitige geistliche Begleitung, Glaubenswachstum und eine unkomplizierte Organisation sozialer Hilfe ermöglichen.
5. Die Digitalisierung ermöglicht uneingeschränkte Erfahrung geistlicher Gemeinschaft.
Die Nutzung moderner Technologien als Beschleunigungsfaktor für die Gemeindeentwicklung kennzeichnet sie Kirche seit ihren Anfängen. Unter den Bedingungen der Globalisierung eröffnet die Digitalisierung neue Möglichkeiten von christlicher Gemeinschaft und Mission.
6. Interkulturalität als Wesenszug des Evangeliums motiviert Kirchengemeinden zu einem Miteinander als versöhnte Gemeinschaft.
Als Geistgeschehen verbinden sich Menschen aus vielerlei Kulturen und Nationalitäten, verschiedenen Alters und Lebensstils, unterschiedlicher Berufe, Herkunft, Bildung und Stellung in Christus zu einer fruchtbaren Gemeinschaft des Lebens und Glaubens, an der sie gleichberechtigt teilhaben und die sie gleichermaßen repräsentieren.
7. Das Bild der »Hausgenossenschaft Gottes« bietet ein ekklesiologisch leistungsstarkes Denkmodell für interdenominationales Miteinander protestantischer Kirchen und Gemeinden.
Es führt heraus aus den Aporien der Idee von einer Konsensökumene, macht Diversität in Theologie, Frömmigkeit und Form als geschichtlich bedingte und von Gott anvertraute Gaben begreifbar. Sie erscheinen als unterschiedliche Wege Gottes oder Räume in seinem Haus, die in der Ausrichtung auf den Herrn der Kirche in eine Einheit in Verschiedenheit überführt werden.
8. Wachstumsfaktoren entfalten eine besondere Dynamik im Gefüge eines zeitgemäßen Gottesdienstes, glaubensorientierenden, gemeinschaftsstiftenden Angeboten und inklusiv-integrativem gesellschaftsrelevantem Handeln.
Dieses triadische Gemeindekonzept verdichtet die Hauptbereiche kirchlichen Lebens zu einer Synergie: Gottesdienste in klarer Bezogenheit auf Gott, innergemeindliche Gruppenangebote, die den Subjekt- und Gemeinschaftsbezug betonen, und Handlungsfelder, die die Beziehung zur Gesellschaft und Welt als Aufgabe der Gemeinde wahrnehmen.